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            KAPITEL 5

Der Praktikant

Es war schon halb acht Uhr abends, nur noch eine halbe Stunde dann war sein Praktikum im Rahmen einer Pflegeausbildung zu ende. Die zweimal sechs Tage 8 Stunden Schichten hatten schon richtig geschlaucht, abends waren seine Füße rund. Die theoretische Ausbildung konnte nicht auf die Realität vorbereiten, er war natürlich aus mangelnder Erfahrung auch bei jeder Sache ängstlich nicht alles richtig zu machen. Dafür machte er ja das Praktikum.

Heute waren sie nur zu zweit für vierunddreißig Alters- heimbewohner, sie fingen schon gegen halb fünf an die ersten ins Bett zu bringen. Sie wollten möglichst pünktlich Feierabend machen, Franz wollte ihn mit dem Auto mitnehmen. Franz hatte ihm während des Praktikums, immer mit den besonderen Eigenheiten der Bewohner vertraut gemacht. Er musste daran interessiert sein, denn er wollte möglichst wenig Rückfragen, sonst wäre das Arbeitspensum nicht zu schaffen.

Er holte Frau A. aus dem Verpflegungssaal, sie war seine vorletzte Bewohnerin, welche er ins Bett bringen sollte, sie saß schon seit einer Dreiviertel Stunde artig an einem schon leeren Tisch. Jedes mal hatte er beim Abholen der nächsten Bewohnerin, gesagt:
„Einen Augenblick noch dann komme ich zu ihnen Frau A, B,C."
Da Frau A. ihr Zimmer nicht mehr finden konnte blieb ihr nichts anderes übrig.
Er begleitete sie langsam neben ihr gehend auf das Zimmer.
Franz fand es zwar löblich das er Frau A. in den letzten beiden Wochen so aktiviert hatte, aber der Arbeitsaufwand wurde größer und die Zeit knapper. Deshalb ließ man Frau A. auch gerne auf ihrem Zimmer, sie verträumte den Tag mit der Tagesdecke über dem Kopf auf dem Bett liegend. Da die bettlägerigen Bewohner das  Essen  auf das Zimmer bekamen, war es möglich auch sie so zu verpflegen.

Während er sie führte, kamen ihm Bilder des Nachmittags in den Kopf.
Er hatte schon nach wenigen Tagen den Nachmittagstisch übernommen, die anderen konnten dann Pause machen sowie die Patienten Dokumentation auf den neusten Stand bringen. Heute war es fast witzig, denn eine alte Dame aus dem ihm unbekannten Gebäudeflügel rief, als er mit Servieren und Nachschenken beschäftigt war:
„ Herr Ober, hallo, hallo, Herr Ober!"
Beim dritten Rufen war er hingegangen, um nachzufragen.
Die Dame muss mindestens fünfundneunzig gewesen sein und wollte ein Taxi, um ihre Eltern im Nachbardorf zu besuchen.
Seinen Hinweis, dass ihre Eltern deutlich über hundert Jahre alt sein müssten, verunsicherte sie nicht wirklich:
„Nein, ich bin erst fünfundsechzig und sehe nur älter aus."
Er kümmerte sich drum und ging ins Schwesternzimmer, da er die Dame nicht kannte, wusste er auch nicht wie er sich verhalten sollte, obschon sie überzeugend klar ihren Wunsch zum Ausdruck brachte.
Die Dame leidet unter Demenz und lebt in der Vergangenheit, gleich kommt jemand und bringt Sie wieder auf ihr Zimmer, wurde ihm im Schwesternzimmer mitgeteilt.
Er hatte schon abgeräumt und die Tische abgewischt, die Bewohner welche Lust hatten am großen Tisch zusammen- gesetzt, um einen schlaff aufgeblasenen Strandplastikball auf dem Tisch hin und her hauen zu lassen. Selbst fünfundneunzig Jahre alte Damen, unfähig im Rollstuhl sitzend selbst Nahrung aufzunehmen, wuchsen über sich hinaus und schlugen den Ball kräftig und schnell über den Tisch an den Kopf eines anderen oder über den Tisch hinaus ins Aus, er holte ihn wieder.
Die alte Dame an der Tür zum Verpflegungssaal wiederholte ihre Rufe nach dem Ober. Nach nochmaligem Stören bei den Schwestern, denn sie rief immer wieder nach dem Kellner, kam jemand. Er ging dazu und als die Schwester Sie mit:
„ Muttchen, wir gehen jetzt aufs Zimmer und dann gibt es noch einen Kaffee",
überreden wollte, drehte sich die Dame erbost zu mir um und sagte:
„Kucken Sie mal wie man hier mit mir spricht, ich möchte zu meinen Eltern."
So überzeugend klar in Wille und Ausdruck, das für ihn tatsächlich kurz der Eindruck entstand, die Dame wird hier gegen ihren Willen festgehalten, irgendwie kurios.

Sie waren in Frau A´s Zimmer angekommen, sechziger Jahre Bau, dreizehn Quadratmeter, Waschbecken, Schrank, Tisch, Stuhl und Bett. Der Radioapparat war ohne Funktion, Fernseher war nicht vorhanden.
Er machte es mittlerweile ganz souverän, er redete mir ihr und sagte an was er jetzt machen wollte. Sie sagte wie an jedem Abend, dass ihr es peinlich ist soviel Umstände zu machen und das sie bald wieder nach Hause käme. Er hatte noch am ersten Tag sie informieren wollen das sie schon sieben Jahre hier ist, da sie auf die Rückfrage wie viele Tage ein Jahr hat nicht antworten konnte, hatte er es gelassen. Sieben Jahre, in den letzten drei Jahren konnte sie ihre Tochter und Enkel nicht mehr erkennen, die blieben seit dem dann auch weg.

Er hatte schon das Bett aufgeschlagen, sie stand mit dem Rücken zum Bett, er kniete vor ihr, bei seiner Körpergröße war das besser für seinen Rücken, zog ihre Gummiband gehaltene Glencheckhose und ihre Unterhose herunter, schnell noch die Windel wechseln. Dann kam die Netzhose welche die Windel zusätzlich hielt, sie stand vor ihm ihre Hosen auf den Schuhen liegend, da öffnete er den Klettverschluss und zog vorsichtig ihre Windel nach unten, um sie hinten zusammenfaltend durch ihre Beine nach vorne durchzuziehen. Sie hatte aber kurz vorher, beim Warten, dünnflüssig gekotet und es tropfte auf Hosen und Fußboden, zum Glück ohne Teppich. Mit anfliegender Panik in der Stimme sagte er:
„Frau A. macht nichts, können Sie einen Augenblick so stehen bleiben? Nicht hinsetzen."
Bejahend entschuldigte sie sich wieder, dass sei auch der Grund dafür das sie nicht aufstehen will, denn dann passiert das immer wieder, ihr entsetzlich peinlich und unangenehm.
Er legte die schon in die Hand genommene neue Windel aufs Bett, jetzt musste es schnell gehen. Sich immer ihrer Standhaftigkeit versichernd, nahm er eilig Gummihandschuhe aus seiner linken Tasche und zog sie an, dann nahm er einen Waschlappen, mit warmen Wasser nass gemacht und fing an von oben die Kotspritzer zu entfernen. Erst die erschlafften Pobacken spreizend den Anus, die Quelle. Ihre Scheide hatte nichts abbekommen so waren nur die Innenseiten der Oberschenkel und der Fußboden noch zu reinigen. Schnell hatte er ihr wieder eine Windel angelegt, vorher die Handschuhe im Abfalleimer entsorgt und die Fensterklappe geöffnet, es roch. Jetzt konnte Frau A. sich auf das Bett setzen. Nachdem er ihre vollgespritzten Hosen und den Waschlappen zum Mitnehmen bereitlegte, half er ihr beim Hinlegen. Sie entschuldigte sich nochmals, er beruhigte sie mit:
„ Kann doch mal passieren ist doch nicht schlimm, dafür bin ich ja da Frau A."
Vorsichtshalber zog er neue Gummihandschuhe an und ließ sich ihre Zähne geben, er putzte sie noch und tat eine halbe Frischhaltetablette in den Gebissaufbewahrungsbehälter. Das Fenster schließend und zwecklos ermahnend, sie müsse mindestens zwei Flaschen Mineralwasser täglich trinken; die gestern aufgestellten Flaschen auf dem Tisch mit Trinkbecher waren ungeöffnet. Kurz neue Hosen aus dem Schrank bereitlegend prüfte er noch schnell den Raum. Er streichelte sie noch an der Schulter, nahm die verdreckten Sachen, heute nicht gute nacht, bis morgen, sondern gute nacht, alles Gute wünschend, machte er das Licht aus und schloss die Tür.
Er hatte Schweiß auf der Stirn, die Zeit lief ihm davon, hatte Frau B. allein auf ihn gewartet? Er ging den langen Flur hinunter, am Ende konnte er die Wäsche loswerden, Hände waschen und desinfizieren. Beim Gang zum Verpflegungsraum fiel ihm wieder die Bausubstanz, die langen Wege und die schlechte Ausstattung auf. Für die das Haus betreibende Weltorganisation hatte das Haus tolle Gewinne erzielt. Durch Unterlassen von Modernisierung oder Einführung besserer, die Pflegekräfte unterstützende, heute überall selbstverständliche, organisatorische Mittel, wurde der Profit zum Nachteil der Bewohner und deren Pflegepersonal maximiert. Dafür konnte man jetzt das Haus entwohnen lassen für einen Neubau, der erste Stock war schon leer, die Konkurrenz der Neubauten war groß.
Erst heute wurde ihm klar wie wenig die Kosten der Pflegekräfte an den gesamt Pflegekosten ausmachten, obwohl sie mit Abstand das Wichtigste waren. Die Windelrechnung bewies alleine schon, dass hier doch nur der geronto- medizinisch-industrielle Komplex den größten Reibach machte, um so länger die Menschen am Leben erhalten werden um so höher der Profit.

Frau B. war nicht da, er hastete in ihr Zimmer, heute merkte er wieder seine Füße, sie waren rund und schmerzten.


Auf dem Weg ging ihm das emotionalste Erlebnis durch den Kopf. Letzte Woche rief eine ausländische Pflegekraft ihn zur Hilfe. Sie war nur einen Meter sechzig groß, fünfzig Kilo und sollte eine im Rollstuhl sitzende Schlaganfallpatientin, groß und schwer, ins Bett heben, unmöglich. Viele der ausländischen Pflegekräfte konnten nur gebrochen Deutsch, das erschöpfte sich dann meist in Pflegeablaufsplattitüden. Gespräche mit Bewohnern die noch erzählen konnten aus ihrem langen Leben, waren sprachlich und aufgrund zu geringer Allgemeinbildung nicht möglich. In der Theorie wurde ein Gespräch noch sehr hoch gehängt, Franz darauf angesprochen, verwies dieser auf das Arbeitspensum:
„Ist eh wurscht ob die Pflegekräfte deutsch sprechen, sie haben sowieso  keine Zeit."

Er montierte die Fußstützen des Rollstuhls zur Seite, trat mit einem Bein zwischen ihre Beine dicht an die Patientin heran, legte ihre Arme um seinen Hals, sie konnte sich noch etwas festhalten. Ein Kommando absprechend hob er sie aus dem Rollstuhl und setzte sie mit einer neunzig Grad Linksdrehung auf ihr Bett. Das ging schnell und reibungslos, beim Hochziehen des Körpers, damit ihr Kopf auf dem Kissen zu liegen kam, hielt sie seinen Kopf fest und küsste ihn auf die Wange. Sie stammelte etwas unverständliches, ihr Gesichtsausdruck verriet Freude und Zufriedenheit, die Pflegekraft bestätigte warum:
„Das war super, Sie schon dabei auf Boden gefallen und wehgetan, danke."

Bei Frau B. angekommen, saß sie schon in Nachthemd  auf dem Klostuhl und wartete auf ihn. Er brauchte ihr nur beim Aufstehen und aufs Bett setzen zu helfen. Meist wortkarg, so fragte sie ihn heute doch ganz klar:
„Was soll das alles noch, das hat doch keinen Zweck, warum kann man mit mir nicht einfach Schluss machen?"
Er konnte nicht wirklich etwas dazu sagen, das geht doch nicht und wie meinen Sie das war alles.
Als Frau B. die klassische Handbewegung, mit dem Zeigefinger quer über den Hals unter dem Kinn durchziehend, vollführte,
überspielte er es mit der verlangenden Geste des Gebiss- herausnehmens. Er musste ihr mit dem nur an einer Hand angezogenen Gummihandschuh, den viel zu fest sitzenden Oberkiefer förmlich aus dem Mund reißen. Heute legte er nur eine Tablette dazu, putzen war nicht mehr, es war schon viertel nach acht, auch für angestellte Pfleger schon unbezahlt.
Er wechselte, den Flur hoch und runter eilend, die Toiletten- schüssel gegen eine Leere. Zurück in ihrem Zimmer, an der Schulter streichelnd ihre Schlafposition optimierend, schloss er, Licht löschend mit ähnlichen Worten, die Tür:
„Alles Gute Frau B., gute nacht."

Auf dem Weg in das Schwesternzimmer kam ihm sein bedrückendes Erlebnis in den Kopf. Frau Z. war erstaunlich, er hatte ihr in den ersten Tagen bei der Nahrungsaufnahme helfen dürfen. Franz hatte ihn eingewiesen, sie verschluckt sich oft und hustet dann, einfach weitermachen. Obschon das Verschlucken sich fast lebensbedrohlich anhörte, schaffte er nur die halbe Portion in einer halben Stunde, so viel Zeit war sonst nie. Deshalb legte man Frau Z. alle zwei Wochen an den Tropf sie würde sonst verhungern. Das Waschen im Bett durch eine Pflegerin wollte er auch anschauen, weil theoretisch nicht zu üben, gehörte es zum Praktikum. Er war erschrocken, der Körper erinnerte ihn an Fotos gestapelter toter KZ Opfer nach der alliierten Befreiung, die anderen Pfleger nannten sie Frau Ötzi, das war auch nah dran.
Seit Jahren am Rande des Verhungern, steif ohne Lautäußerung, unbeweglich, selten an den Augen zu sehende minimale Reaktionen, waren alles. Man schob sie alle zwei Tage für ein paar Stunden, fast stehend auf einem entsprechend gepolsterten Rollstuhl festgeschnallt, zu den anderen Bewohnern an den Nachmittagstisch. Was für ein aufgeklärter Staat? Menschen so ekelhaft zwanghaft jahrelang am Leben zu erhalten. Die höchste Pflegestufe brachte richtig Profit, Arztbesuche auch denn sie waren ausgesprochen kurz.
Wer hat mehr Verantwortung für solche Zustände, der geronto-medizinisch-industrielle Komplex, die Politik oder die unsäglichen Religionen?
Im Schwesternzimmer warteten alle schon auf ihn, Franz war schon unruhig und schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr. Nachdem er nochmalig schriftlich stillschweigen, über alles im Praktikum das Haus betreffend erfahrene, quittierte, erhielt er noch eine gute Kurzbeurteilung. Der Abschied ging zügig, er wollte Franz nicht warten lassen, dass Mitnehmen im Auto konnte vielleicht ein paar Minuten wieder gut machen, es war schon acht Uhr fünfunddreißig.
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      copyright    Horst Möller     2008