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            KAPITEL 6

Finale Buchung

„Freies Hospiz, Jehnseiz, guten Tag was kann ich für Sie tun?"

„Hier spricht Frau Schmidt, wir hatten gestern schon einmal telefoniert, Herr Jehnseiz."

„Ja, natürlich Frau Schmidt, Sie wollten sich noch ein paar Fragen überlegen, dann mal los, ich hoffe ich kann möglichst viel beantworten."
Er klang engagiert und freundlich, ruhig.

„Bitte erzählen Sie mir kurz etwas über das Freie Hospiz und Ihren Service der finalen Buchung,"
Frau Schmidt klang etwas unsicher und doch konzentriert, erwartungsvoll.

„Nun, die Stiftung Freies Hospiz wurde aus dem Nachlass mehrerer Milliardäre gegründet, wir sind damit unabhängig  von Pharmaunternehmen genauso wie von Religionen und Kranken- kassen, trotzdem  sind alle  gesetzlich verpflichtet  unsere Serviceleistung zu unterstützen. Wir finanzieren uns über Spenden und unserer sehr guten Kapitalausstattung. Wir sind auch dabei noch eine gesellschaftsbindende Neuerung durch- zusetzen. Dazu später noch etwas. Das Freie Hospiz ist durch Forschungen zu einem neuen Konzept gelangt. Wir lassen die Menschen freien bewussten Geistes IHR Leben beenden. Dazu können Sie auch auf unserer Webseite die verschiedenen Angebote mit 3D Animation anschauen. Was ist denn Ihre Intension für die finale Buchung, Frau Schmidt?"

„Ach wissen Sie Herr Jehnseiz",
Frau Schmidt klang stabil und gefasst,
ich habe zum Glück auch kein Krieg miterlebt, habe aber viel gearbeitet, drei Kinder großgezogen und eigentlich für sie gelebt, zwei Männer überlebt und jetzt sterben auch alle Freunde und Bekannte langsam weg oder sind schon so dement mich nicht mal mehr zu erkennen. Das bringt keinen Spaß mehr. Meine Rente lässt auch keine Weltreisen zu, könnte ich körperlich auch nicht mehr. Noch bin ich so fit mich selbst um alles zu kümmern und vor allem mich persönlich über Ihre Freie Hospiz Arbeit zu informieren."

„Und die Kinder und Enkel", warf Jehnseiz ein.

„Die stehen fest im Leben und müssen schon selbst damit fertig werden, besonders in unserer Zeit, denen will ich nicht auch noch zur Last fallen. Ich glaube auch das Sie mich so fit wie ich jetzt noch bin viel schöner erinnern werden, als wenn Sie zusehen müssten wie ich am Tropf in den Hungertod gezögert werde. Habe ich für meinen zweiten Mann noch machen müssen, nicht operabler Darmkrebs im Endstadium. Damals war es unter Strafe gestellt, die vorhandenen Morphiumspritzen auf einmal zu benutzen, er hat fast einen Monat zum Verhungern gebraucht, schlimm, das möchte ich für mich anders geregelt wissen."
Sie machte eine Pause und holte tief Luft.
„Im letzten halben Jahr bin ich dann noch passiver geworden, von manchen Kreuzworträtseln die ich vor zwei Jahren noch vollständig gelöst habe, schaffe ich heute nur noch etwas mehr als die Hälfte. Bevor ich in die Altersdemenz abrutsche komme ich lieber zu Ihnen."

„Kann ich voll verstehen es geht vielen ähnlich, Frau Schmidt, dann erzähle ich jetzt noch etwas zur finalen Buchung",
sie hörte, er sprach nicht über eine Freisprecheinrichtung sondern wechselte das Telefon in die andere Hand,
„da normalerweise der Mensch in Mitteleuropa in den letzten zwölf Monaten seines Lebens etwa fünfzig Prozent der Krankenkassenkosten verbraucht, war nicht zu erwarten das der medizinisch industrielle Komplex begeistert war und alle Religionen Beifall klatschten, schließlich entziehen wir ihnen extrem viel Wertschöpfungskapital. Einige Religionen sahen in dieser neuen Sterbebegleitung ein zerbrechen ihrer Daseinsberechtigung, wir konnten uns aber rechtlich vollständig durchsetzen. Zudem sind die meisten Lebensläufe heute doch Wirtschaftswunder, satt, großer existenzieller Wohlstand, Beruf, Familie, Frieden, da lässt sich leicht für unser Konzept werben. Da ist nicht mehr die Kriegsgeneration, die noch wirklich Bomben fallen gehört hat, Hunger, Leid und Tod, da hat man dann doch noch eine etwas andere Sichtweise."
Jehnseiz räusperte sich und setzte wieder an:
„Die finale Buchung ist unser erfolgreichster Service, die Krankenkassen sind bei Frauen ab dem fünfundsiebzigsten Lebensjahr verpflichtet mindestens einmal pro Jahr diese Leistung frei zu erbringen, für Sie Frau Schmidt, ist also alles kostenfrei."

„Das hatte ich mir schon gedacht mit meinen zweiundachtzig Jahren",
fügte Frau Schmidt dazwischen.

Jehnseis fuhr mit seinen Ausführungen fort:
„Bei der finalen Buchung besuche ich Sie erst einmal und wir wählen möglichst viele Bilder, Filme und persönliche Erinnerungsstücke aus, auch werde ich Sie ausführlich zu ihrer Person und Ihren Lebensumständen befragen. Sie können Ihre Lieblingsmusik und Filmthemen von Kunst, Natur bis Erotik zusammenstellen, daraus wird ein Programm erstellt welches zur finalen Sitzung gezielt eingespielt wird. Sehen Sie dazu auch unsere Webseite zur Ausstattung des finalen Raumes mit den verschiedenen Entspannungsmöglichkeiten, auf den Wänden und der Decke wird Ihr Wohnraum projiziert damit Sie optisch zu Hause bleiben, die Aufnahmen dazu machen ich bei meinem Besuch. Sie haben dann die Wahl zwischen verschieden Begleitformen, natürlich auch religiöse Rituale und Anwesenheit der Familie oder enger Freunde, wird allerdings nicht mehr oft gebucht. Zum Ausstieg können Sie diverse Drogen Cocktails zu sich nehmen mit Mediatoren Führung. Wir sind zu zwei Hauptlinien gekommen mit Orgasmus oder ohne."

„Was meinen Sie damit",
Frau Schmidt war ganz Ohr.

Jehnseiz spulte die Informationen ansatzlos ab:
„Wenn eine Dysfunktion der Geschlechtsorgane, meist bei Männern, oder nicht wieder aktivierbares Interesse vorliegt, dann empfehlen wir eher MDMA in Verbindung mit Canabis und Psylocibin. Wenn ein Orgasmus möglich sein könnte geben wir gerne LSD mit Canabis, gegebenenfalls noch mit verschiedenen Räucherschalen über die lange Zeit der Sitzung ergänzt. Die Zielführung des Ausstiegs strebt den Orgasmus an, dieses Urgefühl des Fortpflanzungstriebes, die Intensität, verbunden mit der komplexesten Ausschüttung körpereigener Endorphine, Hormone und Transmitter. Nach der im Schnitt zehnstündigen Sitzung folgt der Erschöpfungsschlaf, Sie müssen nicht wieder aufwachen, aber Sie können."

„Wie, ich dachte das ist das Finale",
stieß Frau Schmidt dazwischen.

„Statistisch erleben fünfzig Prozent schon während der Sitzung einen Herzanfall oder Schlaganfall der durch unseren Aus- stiegsschlaf sofort beendet wird. Vierzig Prozent unserer Kunden überleben die anstrengende, intensive mentale Überwältigung, können sich depersonalisieren, sind dann frei, gelöst, emotionserschöpftbetäubt  und sicher alles getan zu haben, diese Kunden buchen auch den Ausstiegsschlaf fest. Alle anderen Kunden buchen den Ausstiegsschlaf nur bei Komplikationen, welche ich schon erwähnt habe.
Jehnseiz, holte tief Luft und mit einem Lächeln in der Stimme sagte er:
„Aus meiner Mediatorenpraxis kann ich von einem netten Kunden berichten, siebenundachtzig, er hat schon dreimal die finale Buchung ohne Ausstiegsschlaf überlebt. Der Kunde sagt, aus diesen Sitzungen kann er wieder Kraft schöpfen. Er fühlt sich seit langen nicht wieder so gut, kommt jedes Jahr zweimal und hat sein Medien Programm pornographisch für seine Bedürfnisse neu zusammengestellt. Er war auch der Erste, der nach den  Naturdrogen Stechapfel, Bilsenkraut und Fliegenpilz gefragt hat. Da so etwas kaum zu dosieren ist hat er die Neuerung der Räucherware eingeführt, damit wurde auch Haschisch nicht nur geraucht oder gegessen sondern jetzt auch verschwelt. Der alte Herr ist schlank und war lange sehr sportlich mit guter Ernährung, sein Herz Kreislaufsystem kann die körperliche Belastung gut durchhalten. Mental scheint seine Drogenerfahrung aus den siebziger Jahren hilfreich zu sein, mit den Sitzungserlebnissen fertig zu werden."

„Was passiert eigentlich mit dem Körper hinterher",
wechselte Frau Schmidt das Thema.

„Ja richtig, ist eine häufige Frage. Sie können jede handelsübliche Beerdigung bestellen, oder unseren preisgünstigen Hausservice nutzen. Wir bieten dazu die Gedenkhalle an, unserem  Hotel angeschlossen. Dort werden unsere Kunden mit einer Steingravierung etwa zweihundert Jahre registriert. Das eigene Krematorium heizt den ganzen Gebäudekomplex, das freie Hospiz ist hierfür gerade für Energieeinsparung ausgezeichnet worden."
Jetzt musste Jehnseiz doch mal tief Luft holen, die Auszeichnung machte auch ihn stolz.

Frau Schmidt fand die Stimme von Herrn Jehnseiz so angenehm, sie bohrte weiter:
„Ich habe gestern natürlich auch Ihre Webseite überflogen, mir ist aber noch nicht klar wie der Ablauf mit den verschiedenen Sesseln gedacht ist."                                                                          
„Der Ausstiegsraum ist ein dreihundertsechzig Grad Medienschirm genauso wie die Decke und verfügt über eine hervorragende Akustikwiedergabe durch unsichtbare Lautsprecher. Damit Sie Ihre ausgesuchte Musik und die Filme richtig genießen können, bis hin zur Verschmelzung. In der Steigphase des LSD sind die Freunde und Rituale am sinnvollsten, ein Mediator steht Ihnen diskret immer zur Verfügung. Im Fußboden sind drei verschiedene Sitzgelegenheiten versenkt."
Jehnseiz drehte auf, er war in seinem Element, hatte er doch an Entwicklung der Funktion und des Designs des Ausstiegsraumes mitgewirkt.
„In der Steigphase wird meist ein multifunktionaler Schwing- sessel eingesetzt um aktives Sitzen zu ermöglichen. Nach circa drei Stunden wird dann auf die Wanne gewechselt. Es handelt sich dabei um eine größere Badewanne für verschiedene Einsatzzwecke, wir nennen Sie Geborgenheit. Einerseits aus simplen hygienischen Gründen, andererseits versuchen wir auch das Embryogefühl, die Geborgenheit, die warme flüssige Umgebung zu simulieren, wir haben dafür ein spezielles Gel entwickelt. Die wichtigste Funktion für die Zielführung sind aber die Seitenwände der Wanne und der Raum darunter. Sexuelle Stimulation kann von ausgebildeten Masseuren durchgeführt werden, nicht wahrnehmbar unter und neben der Wanne stehend, verdeckt durch runde wulstige Abdeckungen der Wanne, um Diskretion und entspannte Unbefangenheit zu ermöglichen. Sie greifen durch zwei spezial Gummihandschuhe seitlich in die Wanne  und können so Streicheleinheiten und sexuelle Stimulation durchführen, dabei durch je einen Monitor in ihrem engen Arbeitsraum in ihrem Tun optisch kontrollierend unterstützt. Sollte bis zur neunten Stunde kein Ausstiegsschlaf erfolgen wird die Wanne wieder im Fußboden versenkt und Sie können die Einschlafliege oder wieder unseren Sessel nutzen. Im Ausklang des LSD wäre es dann wieder sinnvoll eine Verabschiedung oder religiöse Ritualisierung durchzuführen, um dann in Frieden einzuschlafen."
Jehnseiz klang immer noch nicht angestrengt, es war seine Überzeugung, sich für das Konzept der finalen Buchung einzusetzen, außerdem schüttelte er die Informationen nur so aus dem Ärmel.

„Ah, jetzt verstehe ich, man wechselt nicht den Raum, sondern der Boden tut sich auf und ein anderer Sessel taucht auf, sehr schön. Am Anfang unseren Gespräches wollten Sie noch zur Gesellschaftsbindung etwas sagen, die bald eingeführt wird", setzte Frau Schmidt noch einmal nach.

„Kritiker nennen es verächtlich Euthanasie Wertschöpfungsprogramm, ich sehe es positiv bis innovativ und das Kritiker es so gut auf den Punkt bringen ist selten. Ich habe mit der Begrifflichkeit kein Problem. Wie ich vorhin schon sagte, die Krankenkassen werden natürlich erheblich entlastet. Ein Teil dieser Entlastung aus gesellschaftlichen Bezügen wie Renten und der Kostenreduzierung der letzten Monate für den geronto-medizinisch-industriellen Komplex, wird dem Kunden postum zur Rückführung in den Wirtschaftskreislauf der Gesellschaft an anderer Stelle zur Verfügung gestellt. Viele Spenden, das meiste geht aber an Angehörige, es könnte sich zum Wirtschaftsfaktor auswachsen.
Der gesellschaftsübergreifende Konsens ist noch nicht erreicht, die Stiftung ist aber in der Lage es gegebenenfalls einzuklagen.
Die neusten Gehirnforschungen bestätigen jedenfalls unseren Ansatz."
Frau Schmidt hörte noch ein kurzes Papierrascheln, da verabschiedete sich Jehnseiz auch schon von Ihr, den schon gestern ausgemachten Termin wiederholend:
„So, dann also bis zum achtzehnten Februar im neuen Jahr 2024, ich bin pünktlich um vierzehn Uhr bei Ihnen Frau Schmidt, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Jahreswechsel, vielen Dank für Ihren Anruf, auf Wiedersehen, bis dann."
„Schönen Dank für Ihre ausführliche Beratung Herr Jehnseiz, bis dann."
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